Freitag, 1. November 2013

emails von JULES… heute: "Berlinoir"

"Virtuelles Licht" war einer der "Neuromancer"-Nachfolger von William Gibson, der den Wow-Cyberpunk-Effekt nicht so recht wiederholen konnte. Die Grundidee war ganz nett (eine Brille, die elektronische Informationen mit den tatsächlich zu sehenden Informationen überlagerte) - wurde aber schon recht bald von der Realität ein- und überholt.

Ich spreche hier nicht von "ambient intelligence" oder google-glasses. Ich spreche hier von Smartphones. Die auf jedem Bahnhof, in jeder Bahn, in jedem Auto in jeder Warteschlange, in jedem Büro, auf jedem Schulhof und jedem Spielplatz präsent sind. Smartphones. Ich bin zugegebenermaßen recht abhängig von meinem und der Möglichkeit j-e-d-e-r-z-e-i-t mich auszuklinken und anzuschauen, was sonst so los ist. Weltweit.

Natürlich reagiert meine Umwelt darauf nicht sonderlich positiv. Wenn sie gerade kein Smartphone hat. Bezüglich Aufmerksamkeit und sowas. Verstehe ich ja und reagiere auch darauf.

Aber was die Sache wirklich schräg macht, sind die Kontraste:
Friedliche spielende Kinder am Helmholtzplatz <-> die neuesten Nachrichten aus Syrien.
Langweiliges Meeting im Büro <-> auf einigen thailändischen Inseln sind zu 100% aller Arten ausgestorben.
Warteschlange an der Supermarktkasse <-> Grubenunglück in China.

Linke Seite - Rechte Seite.
Beides passiert gleichzeitig.
Beides scheint so vollkommen entkoppelt zu sein.

Und ja - Aktionismus sowie Tiraden über "First-World-Problems" auf der linken Seite … helfen der rechten Seite nicht wirklich.
Reinhard Kleist / Tobias O. Meißner
Berlinoir


Carlsen
Hardcover | 23x30 cm | 160 Seiten in Farbe
ISBN 9783551751089
24,90 Euro

Berlinoir von Reinhard Kleist und Tobias O. Meissner ist ein sehr, sehr düsteres Meisterwerk. Vordergründig in einer Welt angesiedelt, die dem Berlin der zwanziger Jahre sehr ähnlich sieht

(Linke Seite: Hunger, Arbeitslosigkeit, ausgebeutete graue Menschenmasse - gegen rechte Seite: ausbeuterische Vampire, mit dekadentem, zerstörerischen Lebensstil-weil-sie-es-eben-können)

passt diese Geschichte auf einer tieferen Ebene sehr gut zu diesem Gefühl des Rebellieren-wollens-aber-nicht-wissen-wie. Weil … es ja noch alles viel schlimmer kommen könnte. Muss man nur nach Spanien gucken. Oder Griechenland. Oder USA.

Der erste Teil dieser Geschichte fängt diese diffuse Stimmung des es-ist-schlimm-aber-noch-nicht-so-schlimm sehr gut ein. Der erste Teil endet mit dem verdienten Tod eines der Oberschurken.

Der zweite Teil der Geschichte geht konsequent weiter: Was passiert, wenn die graue Menschenmenge jeglichen moralischen Halt verliert - weil sie ja von Monstern regiert werden. Der zweite Teil endet damit, das einige Menschen zu noch viel schlimmeren Monstern als die herrschenden Vampire werden. Was die Vampire etwas unter Zugzwang setzt.

Der dritte Teil der Geschichte geht mit dem resultierenden Machtkampf unter den Vampiren weiter - und führt zu einer Teilung der Stadt … mit Mauer. In Nord- und Südberlin. Der dritte Teil endet … total unglaubwürdig. Also, es ist schon okay, bis auf die letzte Seite. Happy-End? Warum!!

(Aber vielleicht hoffte ich auch nur auf weitere Teile 4-99 und war darum von dem definitiven Ende nach Teil 3 schwer enttäuscht.)

Guter Stoff!
Hätte mehr sein können.
*"!§$%&!!&*''"!§ Happy-End!

Mit Grüssen noir,
JULES